Von der „Taktik der kleinen Nadelstiche“ war Sepp Kerschbaumer lange überzeugt gewesen −
bis er sich Mitte Mai doch von der Innsbrucker BAS-Gruppe überzeugen ließ, dass es an der
Zeit sei, zu einem großen Schlag auszuholen. Bei einem Treffen in Zernez in der Schweiz, bei
dem Sepp Kerschbaumer, Martl Koch, Alfons Obermair, Franz Muther, Siegfried Carli und
Sepp Mitterhofer, Kurt Welser, Heinrich Klier und Norbert Burger teilnahmen, folgte die
Planung der „Feuernacht“.
Dabei galt als oberste Order, die Kerschbaumer immer wieder
unterstrich, dass ja kein Menschenleben gefährdet werden dürfe! Im Bild der Ausschnitt einer
BAS-Landkarte mit eingezeichneten Masten.
In der Nacht des Herz-Jesu-Sonntags vom 11. auf den 12. Juni 1961 war es soweit: Eine
Stunde nach Mitternacht begann ein ohrenbetäubendes Krachen, Dröhnen und Blitzen, das
1,5 Stunden lang dauern sollte. ca. 200 Südtirolaktivisten aus Süd- und Nordtirol, aber auch
aus dem restlichen Österreich und einige aus Deutschland haben 37 Elektromasten waren in dieser Nacht gesprengt oder beschädigt und drei Kraftwerke stillgelegt. Während im Bozner
Talkessel und im Burggrafenamt besonders viele Masten gefallen waren – allein in Bozen 19
– , war im Eisacktal nichts und im Vinschgau und im Pustertal nicht viel passiert war.
Außerdem
wurden vier Hochdruck-Wasserleitungen gesprengt, unter anderem im Sarntal die
Wasserbrücke über den Tanzbach, die das E-Werk in St. Anton speist. Viele Ausfälle hatten
technische Pannen zur Ursache – häufig hatten Säurezünder und die damit verbundenen
Elektrozünder nicht funktioniert. Zum Teil scheint aber auch einige Männer im letzten
Augenblick der Mut verlassen zu haben oder sie konnten nicht rechtzeitig benachrichtigt
werden.
Warum gerade Elektromasten? Durch das Sprengen dieser Masten sollte der Bozner
Industriezone und den oberitalienischen Industriegebieten die Stromzufuhr abgeschnitten
werden. Wäre alles nach Plan verlaufen und wäre damit der Stahlofen in Bozen abgekühlt,
wäre ein noch größerer Schaden entstanden. Gerade die Bozner Industriezone galt damals
für die Südtiroler als das Symbol der faschistischen Zuwanderungspolitik und wirtschaftlichen
Ausbeutung, waren doch kurz vor der Ernte die Gründe der Bauern enteignet worden, und war
die Industriezone überhaupt nur gebaut worden, um für die zugewanderten Italiener
Arbeitsplätze zu schaffen.
37 Hochspannungsmasten waren umgefallen (19 im Raum Bozen). 1 Kraftwerk war schwer
beschädigt, 8 weitere Kraftwerke waren stillgelegt, und von den 9 Überlandleitungen sind nur
2 intakt geblieben. Zudem waren ein paar Industriebetriebe in Bozen komplett stillgelegt
worden und ein paar weitere fast zur Gänze. Außerdem waren alle Bahnhöfe für eine
Zeitlang lahmgelegt.
Das Ziel, nämlich die Energieversorgung der Bozner Industriezone zu unterbinden, wurde
zwar in der Feuernacht verfehlt, aber die erhoffte Aufmerksamkeit erhielt die Aktion auf jeden
Fall. In vielen internationalen Medien war sofort und über lange Zeit ein großes Presseecho
da.
Schwer traf den tiefreligiösen Sepp Kerschbaumer, dass die Bischöfe von Brixen und Trient
erklärten, dass „diese Anschläge nicht bloß vor dem weltlichen Gesetz, sondern auch vor Gott
und vor dem Gewissen schwere Verbrechen und daher schärfstens zu verurteilen“ seien.
Bischof Joseph Gargitter schrieb in seinem Hirtenbrief vom 4. August 1961 von „gottlosen und
totalitären Kräften, die schon seit geraumer Zeit am Werke sind, verschiedene Leute zu
verwerflichen Gewalttaten verleiten und schließlich unser gutes, katholisches Volk an den
Rand des Abgrunds bringen“. Im Bild Bischof Gargitter mit dem DC-Innenminister Mario
Scelba, der die Folterungen angeordnet und gedeckt hatte.
Kurz nach der Feuernacht wird bei einem Treffen im Frangarter Gasthof Schenk und dann in
der Sommerfrischwohnung von Sepp Mitterhofer beim Taser auf dem Schennaberg die
„kleine Feuernacht“ beschlossen. Anwesend waren außer Sepp Kerschbaumer, Sepp
Mitterhofer, Sepp Innerhofer, Siegfried Carli und Martl Koch auch der Innsbrucker Universitätsassistent Helmut Heuberger.
Trotz Straßensperren und Personenkontrollen war
es möglich, insgesamt acht Hochspannungsmasten in Kurtatsch, Eppan, Schlanders,
Petersberg und Kaltern zu sprengen. Zusätzlich wurden mehrere Züge auf internationalen
Verbindungsrouten zum Stehen gebracht. So sprengte der gebürtige Margreider Günther
Andergassen, Univ.-Professor in Innsbruck, mit seiner Gruppe die Bahnoberleitung Chiasso-
Mailand. Dadurch wollten die Südtirolaktivisten Italien unter Druck setzen.
Obwohl Sepp Kerschbaumer der Polizei schon bestens bekannt war, stand er zunächst nicht
auf der Fahndungsliste. Sie hielt ihn offensichtlich eher für einen fanatischen Spinner und
traute ihm eine Aktion diesen Ausmaßes nicht zu.
Kurz nach der „Kleinen Feuernacht“, einen Monat nach der Feuernacht im Juni 1961, wurde
der Laaser Franz Muther verhaftet. Nach zweitägiger, schwerer Folter gab er die ersten Namen
zu und brachte damit eine ganze Lawine ins Rollen. Kerschbaumer war noch gewarnt und zur
Flucht bewogen worden, nachdem die Carabinieri am 13. Juli u.a. um 4 h früh Jörg Pircher
aus dem Bett geholt hatten. Kerschbaumer aber wartete zuhause ab, bis ihn die Carabinieri
holten: „Ich habe alles in Gang gebracht, und jetzt soll ich mich davonmachen, wo meine
Kameraden gefasst werden? Das geht nicht!“, soll er gesagt haben.
Die Rache des Staates Italien waren brutale Folterungen durch eigens dafür ausgebildete Carabinieri. In nur zwei Wochen saßen 140 im Gefängnis – darunter viele SVP-
Ortsobmänner, Feuerwehrkommandanten und Schützen.
Franz Höfler (28) aus Lana und Toni Gostner (42) aus St. Andrä starben durch die
Misshandlungen, viele trugen durch die Folter schwere gesundheitliche Schäden davon.
Was diese Menschen mitgemacht haben, ist schwer in Worte zu fassen. Auch in Eppan
wurden die Schreie der Gequälten bis auf die Straße hinaus (heute Franz-Innerhofer-Straße)
gehört.
Tagelang ohne Essen und Trinken, immer wieder brutal zusammengeschlagen, mit Fäusten,
mit Eisenstangen, am ganzen Körper Haare ausgerissen, Zigaretten am Körper ausgedrückt,
Salzwasser oder Säure in Mund und Nase gegossen, Gewichte an die Genitalien gehängt,
gedroht, dass die Frauen schon reden würden, wenn man die einmal behandelt ... Wer hält
das aus? Viele Folteropfer berichten, dass sie nur noch gefleht haben, endlich sterben zu
dürfen. Und später sollte niemand jenen gegenüber einen Vorwurf erheben, die sie verraten
hatten.
Was Kerschbaumer in der Eppaner Carabinieri-Kaserne widerfuhr, wo er dem
außergewöhnlich brutalen Leutnant Luigi Gilardo ausgeliefert war, legte er später im Gefängnis
schriftlich nieder. Darin heißt es unter anderem:
„Mir wurden verschiedene Fragen gestellt, die ich verneinte. Daraufhin wurde ich in ein
anderes Lokal geführt, wo ich sofort mit Hände hoch stehen musste. In dieser Position
musste ich von 7 Uhr früh bis 2 Uhr nachmittags bleiben, um welche Zeit ich dann bis
sechs Uhr abends in eine Zelle gesperrt wurde.
Dann ging es wieder von sechs Uhr Abend
bis 3 Uhr gleich wie zuvor, so musste ich im Ganzen 16 Stunden mit erhobenen Händen
stehen. [...] Zu all dem wurde ich in dieser ganzen Zeit mit der flachen Hand oder Fäusten
geschlagen. [...] Ich schwitzte und zitterte am ganzen Leibe und war so erschöpft, dass
ich nur mehr einen Wunsch hatte, nämlich zu sterben. Als ich den Karabinieri sagte, sie
sollen mich frisch umbringen, wurden sie erst recht brutal. Beim späteren Verhör wurde
mir immer wieder mit der Streckbank gedroht. [...]“
Beim Trienter Prozess gegen die Foltercarabinieri, bei dem auch Kerschbaumer als Zeuge
aussagt (siehe Bild), werden die Carabinieri nicht nur freigesprochen, sondern belobigt und
befördert.
Nach den qualvollen Verhören in Eppan wurde Sepp Kerschbaumer ins Bozner Gefängnis
gebracht. In einem seiner Briefe beschreibt er seinen Tagesablauf:
„Um halb acht aufstehen, dann Kaffee trinken, abwaschen und aufbetten, lesen der
Tagesmesse im Schott [das klassische Messbuch], zwei Rosenkränze. So wird es halb elf
Uhr. Mit einem Kartenspiel, Zeitunglesen und Mittagessen ist der Vormittag vorbei.
„In der Zeit von halb 1 bis 2 Uhr bete ich wieder zwei Rosenkränze, von 2 bis 4 Uhr ist Spaziergang
oder wir unterhalten uns in der Zelle mit Lesen oder Vierer-Schnapsen [ein Kartenspiel]. Um
vier Uhr bete ich einen Rosenkranz für die armen Seelen, insbesondere für die verstorbenen
Kameraden Höfler und Gostner. Dann spielen oder lesen. Abends zwischen 7 und 8 bete
ich zwei Rosenkränze. Hernach gehen wir ins Bett und beten dann einen Rosenkranz und
eine Litanei.“
Das sind also außer der Tagesmesse und der Litanei 8 Rosenkränze täglich.
Am Herz-Jesu-Sonntag 1962, also genau ein Jahr nach der Feuernacht, waren
Hubschrauber im Einsatz, um das ganze Land nach den streng verbotenen Fahnen und
Feuern abzusuchen. Dass ausgerechnet Kerschbaumer ein weißes und ein rotes
Taschentuch an die Fenstergitter seiner Zelle geknüpft hatte, war ihnen entgangen! Als
Strafe wurde er nach Verona und dann nach Venedig versetzt. Erst nach vielen Wochen
erreichten es Kerschbaumers Anwälte, dass er wieder nach Verona versetzt wurde.
Eine Sorge wurde für die Häftlinge Monat für Monat belastender: Wann würde es endlich
zum Prozess kommen!? Viele der Kameraden saßen ein, zwei, manche sogar schon
zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft. Um endlich eine Festlegung des Termins zu
erreichen, trat Kerschbaumer wieder in den Hungerstreik. Er trank lediglich täglich zwei Liter
Wasser, in dem er einen Löffel Zucker auflöste.
Dieser Hungerstreik sollte für Kerschbaumer gravierende Folgen haben: Aufgrund der
Schwäche ließ auch die Konzentration nach, und so kam es zu einem schweren
Arbeitsunfall: Er geriet mit vier Fingern der linken Hand in eine Presse − worauf diese
amputiert werden mussten. Kerschbaumer ertrug diesen Schlag mit einer Größe und einer
Gottergebenheit, wie sie ihm zeitlebens eigen war.
Im Dezember 1963 beginnt in Mailand endlich der Prozess, der europaweit von allen
wichtigen Medien mitverfolgt wird. Viele Angeklagte gestehen nicht nur freimütig ihre Taten,
sondern sie nutzen vor allem die Öffentlichkeit, um Italien wegen seiner
Unterdrückungspolitik und wegen der massiven Menschenrechtsverletzungen anzuklagen.
Sie zeigten auf, wieso sie sich gezwungen sahen, solche Zeichen zu setzen und wieso sie
trotz ihrer Familien ausgezogen sind, um Masten zu sprengen.
Im Laufe des Prozesses merkt man richtig, wie sich die öffentliche Meinung in Deutschland,
in Österreich, aber zum Teil auch in Italien entscheidend verändert. Langsam beginnt man
auch in Europa zu begreifen, um was es hier überhaupt geht.
Der Mailänder Prozess dauert über 7 Monate – 25.000 Seiten Prozessakten sind zu
berücksichtigen, und allein die Einvernahme der Südtirol-Aktivisten dauerte 2,5 Monate lang.
435 Zeugen werden befragt.
Als dann zum Schluss der Staatsanwalt als Ankläger das Wort ergriff, redete er sage und
schreibe sechs volle Tage lang gegen die Häftlinge. Dabei fielen vor allem drei „Delikte“ ins
Gewicht: der Anschlag auf die Verfassung, politische Verschwörung und Anschläge auf
Bauten. Zusätzlich wurden noch Vertrieb und Aufbewahrung von Sprengstoff, Anschläge auf
Elektroanlagen, Anschlag auf die Verkehrssicherheit und anderes aufgelistet.
Am 16. Juli wurde das von allen mit höchster Spannung erwartete Urteil verkündet. Durch
gute – zur Gänze von Österreich bezahlte Anwälte – konnten die Strafen zwar reduziert
werden, für einige wog das Urteil aber trotzdem noch schwer. Für 46 Kameraden öffneten
sich mit Prozessende die Tore zur Freiheit. Aber für 22 andere schlossen sich wieder für
lange Zeit ihre Zellentüren. Fast 16 Jahre lautete das Urteil für Sepp Kerschbaumer.
Jörg Pircher hatte über 14,5 Jahre bekommen, Sepp Mitterhofer fast 12 Jahre, Josef
Fontana 10,5 Jahre. Aber auch viele andere bekommen hohe Gefängnisstrafen – für die
Familien ist das eine komplette Katastrophe. Nicht wenige haben fünf, sechs Kinder daheim,
der Mann und der Vater fehlt überall. Viele Familien haben mit größten finanziellen
Schwierigkeiten zu kämpfen.
Die meisten Häftlinge sitzen jahrelang in Haft. Den Frauen fehlen die Ehemänner, und den
Kindern die Väter. Aber auch wirtschaftlich ist für viele Familien die Haft des Vaters eine
komplette Katastrophe. Abgesehen davon, dass der Ernährer fehlt und die Frauen gerade
am Anfang nicht wissen, wie sie um Himmels Willen ihre Kinder und sich durchbringen
sollen, wird zu allem Überfluss noch der Besitz, meist der Hof, mit schweren Hypotheken
belastet.
Aber die Häftlingsfamilien bekommen auch Hilfe: Sie werden unermüdlich betreut von ein
paar guten Geistern, vor allem von Midl von Sölder, Grete Koch, Karl Masoner und Maria
Egger. Für die Besuche in Mailand werden gemeinsame Busfahrten organisiert. Gerade
dieser Tränenbus, mit denen die Häftlingsfrauen beim Mailänder Prozess zu den
Verhandlungen fahren, hat traurige Berühmtheit erhalten.